Montag, 30. September 2013



309 - Diskussion aus westlicher Sicht
 

1) Die Bedeutung solcher Erlebnisse in der Gesellschafts-Politik des Landes
   
Es ist üblich: Alle politischen Herrscher eines Staates und organisierte Religionen und Wirtschaftsmächte benutzen ähnliche Machtmittel, nämlich verschiedene Formen der massiven Unterdrückung, Abhängigkeiten und meistens Verführungen. Zu den Verführungen gehören Versprechungen von persönlicher Macht, Wohlhabenheit, Konsum, Sicherheit, Freiheits-Ideologien, politische Vorherrschaft über andere Völker oder Volksgruppen sowie deren Ausbeutung, ewige Seligkeit und Genüsse, und im Jenseits Freiheit von den in diesem Leben zu erleidenden Ängsten und Qualen.

Ich kann mir denken, daß auch ein System mit Freiheiten von psychischen Zwängen reizvoll und verführerisch sein könnte, Freiheit für jeden einzelnen Bürger – nicht umsonst haben zum Beispiel heute alternative Psychotherapie-Formen einen Zulauf, die großen psychischen Freiheitsgewinn anbieten. Was ich in Khajuraho sehe, könnte ein solches System gewesen sein. Das mittelalterliche Khajuraho-System war gewiß menschlicher als die heute gängigen Unterdrückungssysteme, die es im indischen Mittelalter allerdings auch gab. Die Khajuraho-Tempel gingen (und gehen) auf den Menschen selbst ein, auf seine psychischen und spirituellen Sorgen, Bedürfnisse und Freuden.

Lediglich Menschen mit Macht-Ansprüchen oder mit Ansprüchen auf Ausbeutung von Mitmenschen – zum Beispiel mittels Sex – hätten im Khajuraho-Staat, wie ich ihn erkenne, wenig Chance gehabt, zum mindesten hätten ihnen die Tempel nicht helfen können. Vielleicht war es so, daß in Khajuraho die allgemeine tantrische Lebensweise und Erziehung von Kindheit an solche Bedürfnisse nach Macht über andere und Ausbeutung anderer stark abschwächte, das kann ich mir als Möglichkeit vorstellen. Vielleicht ist auf diesem Wege auch eine räuberische Ausbeutung der Natur tabu gewesen – das ist ebenfalls eine Notwendigkeit für eine lange Stabilität eines Staates. Wir wissen ja, daß es auch heute noch Kulturen gibt, in denen nicht die Ausbeutung sondern der Schutz der Natur im Mittelpunkt steht – zum Beispiel die Bishnoi in Indien, die Tibeter, die Kogi in Columbien.

Mir ist nicht bekannt, ob die tantrischen Gemeinden mit ihren Tempeln dem ganzen Volk zur Verfügung standen oder nur einer Oberschicht oder auch einer Gruppe, die der Staatsreligion angehörte. Ansich ist tantra tolerant gegenüber allen friedfertigen Menschen und Religionen. Ich bin sicher, daß das Khajuraho-System selbst nicht eine Religion war – sondern eben tantra, denn es finden sich Standbilder verschiedener Bekenntnisse in den verschiedenen Tempeln, auch des Buddhismus und des Jainismus.


2) Tempel-Besuch und seelische Gesundheit der Bürger

BEFREIUNG: Wie ich es empfinde, geht das tantra in Khajuraho auf alle Emotionen ein, am meisten aber auf Erotik (erotische Verführungen) und – sehr viel weniger – auf Sex. Wohl weil das die beiden stärksten Kräfte im Leben sind. Diese beiden erzeugen die meisten Probleme, und sie sind wegen ihrer großen Energie nutzbar um uns auf Wege in höhere Bewußtheitsstufen zu leiten. Befreiung bedeutet, über Zwänge hinauszuwachsen, DAS sind die wesentlichen Aufgaben der Skulpturen an den Tempeln. Befreiung von Abhängigkeiten von Emotionen. Erst der befreite Mensch kann sich ganz der Begegung mit der Gottheit hingeben, »kosmisches Bewußtsein«, sogar »absolute Bewußtheit«.

FEIERN: Es ist eine alte Tradition Indiens – und sie leitet sich von BUDDHA her –, daß das Leben ein Jammertal sei: »sarvam dukham« = »Alles ist Leiden« soll BUDDHA gesagt haben. So sehr das tägliche Leben zu dieser Anschauung verleitet haben mag (und das ist heute ja nicht anders), verführt sie doch zu Lebens-Untüchtigkeit, zu andauerndem Gejammer und zur imaginären Flucht in die Unrealität, in die »höheren Leiden-losen Sphären«, in den Himmel, ins Paradies – doch alles als ein Traum für die Zukunft – noch dazu von den Religionen mit viel Glanz und Schönheit angeboten –, mit Geld zu bezahlen.

RAWSON (1973, Seite 9 ff.) geht darauf ein und bemerkt unter anderem: »... ausgezeichnete Tantriker des 19. Jahrhunderts haben nachdrücklich festgestellt, daß sie glauben, daß vieles von dem Elend im armen Indien von dem Welt-Hass verursacht wurde, den die traditionellen brahmanischen Philosophien in die Mehrheit der Bevölkerung eingepflanzt haben.« Und: »im kompletten Gegensatz zu dem energischen „NEIN!“, das die offizielle brahmanische Tradition in die Welt gerufen hat, sagt tantra ein kräftiges und qualifiziertes „JA!“ zur Welt«. Das heißt: anstatt Freuden, Visionen und Ekstase zu unterdrücken, sollten wir sie kultivieren und benutzen – und OSHO ergänzt: feiern.

TANTRISCHE EROTIK: tantra propagierte also eine bejahende Lebenshaltung. Und dazu diente ihm eine große Menge von Ritualen und Bildern, über die es heute eine breite Literatur auch im Westen gibt, zum Beispiel als eines der ersten RAWSON´s Buch (1973). Der Westen hat jedoch die Neigung, die tantrischen Praktiken und Symbole schnell aus dem Blickwinkel der Sexualität zu sehen, wobei nicht selten die beiden Wörter Erotik und Sex vermischt werden. Oft entsteht die Vorstellung einer „abartigen“ Sexualität, und dann folgt viel Scheu, Ablehnung oder gar Ekel. Doch ist die Vielfalt, Sorgfalt und Schönheit der Skulpturen an den Tempeln von Khajuraho viel mehr als nur billige Sex-Befriedigung. Sie haben nichts mit Besitzen-Wollen zu tun, nichts mit Ausbeutung des/der anderen. Auch weist die alte tantrische Literatur Indiens an sehr vielen Stellen (siehe RAWSON 1973 und andere) auf die spirituelle Bedeutung des tantrischen Sex´ hin. Viele heutige Inder aus den oberen Schichten haben aber gleiche Neigungen wie der Westen – beeinflußt vom Brahmanismus, dem Islam, und dann vom Puritanismus der Engländer, und sind ablehnend berührt durch das alte tantra.

SINNENGENUSS UND WAS DANN KOMMT: Am Ende des Weges durch die Instinkte, Gefühle und Begierden steht das Ziel, sie bewußt zu machen, sie aus dem Dunkel des Oberflächlichen, des kaum-Bewußten oder der Verdrängung ans Licht zu bringen und sich damit von ihrer dunklen Vorherrschaft frei zu machen, sie bewußt ins Leben hereinzunehmen, sie voller Helligkeit, Lust und Freude zu erleben – in allen Facetten der Fantasien, in allen Möglichkeiten. Das ist der Grund, weswegen OSHO seine sannyasins so oft zu vollem Sinnengenuß aufruft – nämlich um seelisch gesund über sie hinauszuwachsen: »Wenn es recht geht, ohne Einschränkung durch deinen Verstand, geht die Ekstase viel tiefer als jeder sexuelle Orgasmus, ohne irgendeinen Verlust. Keine Energie geht dabei verloren; in der Tat: die Energie wird bewahrt ...

... das ist das Phänomen, das kundalini genannt wird. Der Name hat nicht viel zu sagen, aber es ist das Phänomen, das kundalini genannt wird. Daran denkt man, wenn gesagt wird, daß sich die Schlange in dir entrollt. Die Energie hat ein Reservoir im Sex-Zentrum; das ist das unterste Zentrum. Und das höchste Zentrum ist im Kopf, sahasrar. Zwischen diesen beiden ist das ganze Lebensspiel, das ganze Spektrum. Wann immer diese beiden Zentren auf derselben Wellenlänge schwingen, ist Freude.«

Hier schreibe ich die Energie–Zentren oder Chakren (chakra = Rad, Kreis, sanskrit) auf (sehr einfach):

sahasrar – Scheitel, Himmel
ajña – Drittes Auge
vishuddha – Kehle, Ausdruck
anatta – Herz, allgemeine Liebe
manipura – Sonnengeflecht, Gefühle
svadisthan – Tod, Geburt, auch Sex
muladhar – Sex, Erde, Wurzeln

Mich erinnern die Symbole, die auf dem Bild 40 (http://tantra-khajuraho-zwei.blogspot.com/) gezeigt sind, an die Chakren.

»Das geschieht im sexuellen Orgasmus: sie beginnen, im selben Rhythmus zu schwingen; das geschieht in der Ekstase, sie vibrieren im selben Rhythmus. Es gibt nur einen Unterschied: im sexuellen Orgasmus ist der vorherrschende Faktor das muladhar, das unterste, das Sex-Zentrum. Es vibriert, und mit ihm vibriert das siebte Zentrum, sahasrar. Doch das erste Zentrum bleibt der Herr, und das siebte folgt einfach nach, es ist das Echo.

In der spirituellen Ekstase, im samadhi, geschieht gerade das Entgegengesetzte: das sahasrar wird der vorherrschende Faktor, es ist der Herr, und das Sex-Zentrum vibriert als ein Echo. Das ist der einzige Unterschied. Sonst sind die beiden Orgasmen gleich; dennoch ist der Unterschied groß. Wer der Herr ist, das macht den großen Unterschied. Wenn das oberste der Herr ist und das unterste der Sklave, dann ist es spirituelle Ekstase. Wenn das unterste der Herr ist und das oberste der Sklave sein muß, das ist Sexualität. Aber eines ist ähnlich: daß beide zusammen pulsieren.

Im sexuellen Orgasmus kann diese Pulsation nur einen Moment andauern, denn der Herr kann nicht für längere Zeit zum Sklaven reduziert werden, und der Sklave kann sich nicht lange als Herr ausgeben. Doch wenn der Herr seinen Platz eingenommen hat und der Sklave seinen Platz eingenommen hat, und sie da sind, wo sie hingehören, dann kann es ein zeitloses Phänomen werden; man kann darin immerwährend (continuously) pulsieren, Tag ein, Tag aus. Ein spiritueller Mensch lebt im Orgasmus ... sein Sein ist orgasmisch.«
(OSHO 1981c, Seiten 99–100; seht auch in BHAGWAN (= OSHO) 1983, „Vom Sex zum kosmischen Bewußtsein“, Seiten 71 u nd 148)

Und: die Bedürfnisse nach Sinnengenuß sind ja doch da, sie sind in unserer Natur unvernichtbar angelegt, sagt OSHO, sie können nicht einfach unterdrückt oder verdrängt werden, es ist Lebensklugheit, sie zu leben. Im Innern rumoren sie doch immer weiter und würden dort zu Neurosen und Schlimmerem führen – wie man an zahllosen Beispielen von im Zölibat lebenden Nonnen und Mönchen sehen kann, denen der Glaube an gewisse gesellschaftliche Vorstellungen die Beschäftigung mit der Erotik verbietet.


3) Tempel-Besuch und seelische Gesundheit der Bürger

INNERE STILLE: Noch weiter geht es, wenn im älter-Werden die Triebe und Gefühle langsam an Drängen und Bedeutung verlieren und damit das Feld frei werden lassen für inneres Stillsein, für Meditation, für innere Leere (sunyata bei BUDDHA). Und damit wäre ein vorläufiges Ziel des sadhaka (= Strebende/r) erreicht. Es ist ein Prozess des älter-Werdens, wenn Sex aus natürlichen Gründen beginnt, an Kraft und Bedeutung zu verlieren und sich schließlich aufzulösen. Und beim sadhaka schleppen sich auch die Fantasien und die Begierden jüngerer Jahre nicht mehr bis ins Greisenalter hinein (da sie ja ausgelebt sind).Und möglicherweise wird es schon gar nicht einen verzweifelten Todeskampf geben, weil der Mensch nicht loslassen kann, weil so vieles ungelebt blieb in diesem langen Leben. Man sagt, auch das Sterben ist dann still.

tantra wendet sich jedenfalls immer wieder gegen Unterdrückung der Triebe und Gefühle. tantra versucht vielmehr, sie zu veredeln und damit für jeden – auch für sehr einfache Menschen, auch für die Gesellschaft – annehmbar zu machen und ihren Mißbrauch zur Machtausübung zu verhindern.

Das TANTRISCHE GEMEINWESEN: Man könnte auch sehen: tantra in Khajuraho war weniger als Pflege der seelischen Gesundheit des Einzelnen gemeint sondern mehr als ein weites Paket von Anregungen und Hinweisen (auch technischen Hinweisen), wie wir in der Gesellschaft mit unseren Emotionen leben können (oder sollten). Ich meine: das Ganze war in erster Linie zur Gesundheit der Gesellschaft gedacht, einer vorwiegend tantrischen Gesellschaft.

Ich glaube, daß die Chandela-Herrscher über diese Dinge gewußt und sie in ihre Psycho- und Sozial-Politik eingebaut haben. Und es scheint, daß mit dieser Methode ein kreatives und psychisch gesundes Gemeinwesen geschaffen wurde, weit reifer, als das, was wir heute in Ost und West haben. Immerhin gelang es ihnen, über etwa 400 Jahre einen stabilen, mächtigen und wohlhabenden Staat zu entwickeln und zu erhalten – eine sehr lange Zeit inmitten eines politisch so unruhigen Gebietes wie es Mittel-Indien in jener Zeit war – und eine große Schar von künstlerischen Handwerkern zu versammeln, die aus einem meditativen Leben und einer meditativen Kultur heraus eine so große Zahl von Kunstwerken geschaffen haben.


4) Die Bedeutung der tantrischen Tempelbesuche für die außenpolitische Situation des Landes und der Dynastie

Ich denke: diese über Jahrhunderte andauernde erfolgreiche Existenz des Chandela-Reiches hat mit dem tantra in ihrem Land zu tun.

Jedenfalls kann man auch heute sehen, daß Tantriker, die sich nicht an Systemen festhalten, einen höheren (auch politisch höheren) Freiheitsgrad und eine größere Kreativität und einen höheren Erfolgsgrad haben als der Durchschnitt des Volkes. Dabei denke ich nicht an einen Erfolg im Sinne der Ansprüche der Gesellschaft sondern an den eigenen individuellen Fortschritt und die eigene Überzeugung, etwas Schönes und Wertvolles zu erschaffen. Was im Einzelnen den Erfolg bringt – darüber kann man nachdenken, doch ich sehe, es sind wohl die geistige Geradheit und Sicherheit und Klarheit des Tantrikers, und seine relativ große Freiheit von gesellschaftlichen Regeln und von festen Vorurteilen.

Im alten Khajuraho werden die Priesterin, Lehrerin, Mutter, Arbeiterin, der Soldat, Politiker, Handwerker, Arbeiter ..., die in diesem tantra lebten, – so schließe ich aus der Beobachtung heutiger Tantriker – mit mehr Klarheit und seelischer und geistiger Sauberkeit an ihre Arbeit gegangen sein als viele andere Leute. Wahrscheinlich wurde auch dem Nicht-Tantriker dasselbe Lebensrecht und Erfolgsrecht zugestanden, und die Schönheit des tantra und der Tantriker strahlte auf sie aus; wahrscheinlich gab es keine tantra-Diktatur – jedenfalls widerspräche das der tantra-Idee wie ich sie verstehe.

tantra bedeutet ja nicht nur eine Reinigung von psychischen Unreinheiten, sondern ganz besonders ein geschicktes Leben in der eigenen, individuellen Stille (Meditation, dhyan), mit klaren, offenen, bewußten Sinnen und Beziehungen zur Umwelt.

So mag der Bürger des Chandela-Reiches Jejaka-bhukti gegenüber den nicht-tantrischen Nachbarvölkern überlegen gewesen sein. Außer Jejaka-bhukti soll es noch einige andere tantrische Reiche in Nord- und Südindien gegeben haben, wie ich aus der Verbreitung von offensichtlich tantrischen Tempeln und noch immer anzutreffenden Resten tantrischer Lebensweise schließe (siehe RÁMACHANDRA KAULÁCHÁRA 1966).

Nur einen Nachteil hatten die Bürger eines tantrischen Landes: sie waren im Grunde friedfertig und nicht gewalttätig – und daran mag das Reich zugrunde gegangen sein. Denn die Moslem-Militärs und ihre Heere waren nicht zimperlich, sie eroberten und herrschten wahrscheinlich mit großer Gewalttätigkeit, gegen die die Tantriker nicht angehen wollten – aus Überzeugung. Immerhin ließ es sich unter moslemischer Herrschaft auch nicht so schlecht leben, denn war das Regime erstmal gefestigt, gab es Religionsfreiheit in jenen Zeiten auch unter den Moslemherrschern.


5) Einflüsse des mittelalterlichen tantra auf das heutige Indien
   
Vorausgesetzt, daß die tantrischen Regimes und Lebensweisen wirklich so human und freiheitlich waren wie ich vermute, hat es nach der tantrischen Zeit einen weitgehenden Zusammenbruch der individuellen Freiheit in Indien gegeben: Indien hat sich in den 800 Jahren seit der tantra-Zeit in ein prüdes Land verwandelt, das heißt in eine Gesellschaft, die die Freiheiten des Einzelnen durch starre, gesellschaftliche Regeln beschneidet. Auch hat sich das Patriarchat in zum Teil grausamer Weise durchgesetzt – ein Aspekt, der jeder Form von tantra total fremd und widerwärtig ist.

Die Ursachen für diese Veränderungen mögen dreierlei sein: erstens der Einbruch des Islam, der eine gänzlich andere Bevölkerungspolitik verfolgte und besonders in moslemischen Ländern des Islam noch immer verfolgt – nämlich eine restriktive und patriarchalische, Mann-betonte Lebensart –; zweitens das Wiedererstarken des brahmanischen, puritanischen und patriarchalischen, weniger gefühlsbetonten klassischen Hinduismus (nachdem der Buddhismus aus Indien wieder verdrängt worden war), der auch auf der Unterdrückung von Sex und individueller Freiheit bestand und immer noch besteht; und drittens der Einbruch des englischen Puritanismus mit der europäischen Kolonialisierung Indiens – ich vermute, die bei weitem stärkste anti-tantrische Kraft.

Dennoch: bei genauem Hinsehen finden sich im indischen Leben immer noch Reste der tantrischen Vorstellungen: einmal in und an den Tempeln die tantrischen Skulpturen – und nicht nur in den typischen tantra-Tempeln sondern in fast jedem alten Hindutempel, klar sichtbar für jeden Menschen. Und zum anderen ist der indische Mann im Durchschnitt – trotz des oben Angemerkten – nicht so sehr Mann-betont wie der europäische Mann. Er stellt den Mann nicht so nach „männlichem“ Muster dar, er gibt sich der Frau im täglichen Umgang ähnlicher – wenn auch sein Körper vom weiblichen ebenso abweicht wie der des Europäers.

Ein anderer Aspekt des tantra ist noch sehr weit verbreitet: das Magische, das Kalkulatorische, das Spekulative. Ich bespreche diese Dinge hier nicht, da ich von ihrem Verhältnis zu den Skulpturen Khajuraho´s nichts weiß, und da sie insgesamt schier unübersehbar und komplex sind – für Außenstehende kaum verstehbar. Jedoch sind die indische Seele und das indische Leben voll von diesen Dingen: man begegnet an vielen Straßenecken, auf jedem Markt, in jedem ashram (= spirituelle Schule) allen Formen von Magiern, Gauklern, Wahrsagern, Schamanen und so weiter – kurz gesagt geistigen und seelischen Spekulanten (für mich ist Spekulation nichts Verwerfliches sondern es ist eine der geistigen Arten, um sich Erklenntnissen zu nähern) im weitesten Sinn, die von sehr unterschiedlicher Qualität und Tiefe sind. Darüber hat unter anderem BRUNTON (1961) ausführlich berichtet.

Interessenten an den magischen Aspekten von indischem tantra weise ich auf die folgenden Bücher hin: THIRLEBY 1982, CHAWDHARI 1985, JOHARI 1987.


6) Einflüsse des Khajuraho-tantra auf die spirituelle Szene erdweit

Es wird gesagt, daß Mahatma GANDHI nur durch RABINDRANATH TAGORE daran gehindert werden konnte, die Tempel von Khajuraho verschütten zu lassen. Er empfand sie als ein schlechtes Zeugnis für die Reinheit des Hinduismus oder der indischen Kultur. Viele Inder mögen diese Ansicht teilen. Andere gehen hin und verehren die Götter – vielleicht ohne daß es sie weiter interessiert, was die Tempel vor 1000 Jahren tatsächlich für eine Bedeutung hatten. Andere genießen die psychischen und spirituellen Aussagen und das Kunstwerk.

Abgesehen von einigen Büchern, in denen Khajuraho beschrieben oder erwähnt wird, kennt der Westen nicht viel mehr als „die Sex-Tempel“ oder "Porno-Tempel". Die folgenden im Westen erhältlichen Bücher sind erwähnenswert, da sie weit mehr zeigen als den Bezug zum Sex (siehe Literatur-Verzeichnis), doch seit ich dieses geschrieben habe, ist bestimmt manches dazu zugekommen:

FOUCHET (1959): The Erotic Sculpture of India.
MOOKERJEE (1967–1968): Tantra Kunst.
MOOKERJEE (1971): Tantra Asana, ein Weg zur Selbstverwirklichung.
MOOKERJEE & KHANNA (1987): Die Welt des Tantra in Bild und Deutung
(dies Buch behandelt das traditionelle indische tantra).
SOULIÉ (1982): Tantra, Erotic Figures in Indian Art.
SHEARER (1987): Northern India, A Guide to the Sacred Places of Northern India
(in diesem empfehlenswerten Buch wird auf die Bedeutungen der Tempel mit ungewohnter Einfühlung und Ausführlichkeit eingegangen).

Über indische Versandbuchhandlungen sind auch in Indien erschienene Bücher erhältlich wie die von CHAWDHRI, PODDAR & KAPOOR, THOMAS, Swami NIKHILANANDA.

Viele westliche Touristen reisen nach Khajuraho, doch die dortigen Fremdenführer – mit Ausnahme einiger wie Swami GANGA (siehe das Kapitel „Methoden ...“ http://tantra-khajuraho-zwei.blogspot.com/) – scheinen ihnen lediglich von den westlichen Deutungen, die von indischen Indologen übernommenen wurden, zu berichten, die meinen Erfahrungen widersprechen. Nur Menschen, die sich von jenen, meist aus den christlichen Vorstellungen hergeleiteten Deutungen frei gemacht haben, die also ohne einschränkende Vorurteile die Tempel betrachten, haben sich geöffnet für andere Gefühle. Menschen, die zum Beispiel eine Nähe zur humanistischen Psychologie Amerika´s haben – vielleicht auch zur alten Psychologie des Buddhismus, Tibet´s und des Taoismus´.

Andere westliche Touristen suchen einfach das erotische Erlebnis, was vielleicht nicht ganz den ursprüngliche Intentionen der Erbauer widerspricht: der Betrachter soll an seine eigenen erotischen und sexuellen Begierden und Fantasien klar erinnert werden und sie in das Bewußtsein hervorrufen und sie damit aus der Dunkelheit der Verlegenheit und Scham entlassen. Doch wahrscheinlich gelingt das nicht während der kurzen und unvorbreiteten Besuchen der Touristen.

Die Mehrheit der westlichen Besucher ist aber wohl von der großen Schönheit der Figuren, von der Vollständigkeit des Eindrucks der einzelnen Tempel, von der Fremdartigkeit begeistert – ich denke, diese Art von ästhetischem Geschmack ist kaum tantrisch und hat kaum eine Wirkung auf den seelischen Fortschritt im Sinne des tantra.

Wahrscheinlich mögen aber nur wenige Besucher die Tempel so erleben wie ich es oben beschrieben habe, da ihnen einfach die Hinweise fehlen, wie sie von Swami GANGA zu bekommen oder in OSHO´s Büchern zu finden sind. Diesen Büchern mag sich wohl nicht jeder öffnen, man sucht sie nicht einmal so leicht. Doch ich möchte das Lesen als Vorbereitung nahelegen, besonders „Tantra die Höchste Einsicht“ und „vom Sex zum kosmischen Bewußtsein“. Die englische Übersetzung des letzteren („From Sex to Super-Consciousness“ ) ist leichter zu lesen als die deutsche.


7) Zukunfts-Vision – können die Wege der antiken Khajuraho-Kultur helfen, die Menschheitsprobleme der heutigen Zeit zu überwinden?

Im Westen haben sich in den vergangenen 25 Jahren eine Anzahl von tantra-Bewegungen gegründet. Mir scheint, daß OSHO´s Neo-Tantra einiges von den Khajuraho-Ideen mitgenommen hat aber nicht die alten Rituale, während andere Autoren gerade die alten Rituale benutzen (zum Beispiel THIRLEBY 1982). Es scheint mir, daß die Benutzung von Ritualen – seien es neue oder traditionelle – dazu verführen, dem Gang in die eigene Tiefe auszuweichen: Rituale als Werkzeug der Verdrängung. Die Ursache mag unter anderem darin liegen, daß der westliche Mensch nicht in der Tradition dieser Rituale lebt und sie erst neuerlich erworben hat, oft auch heimatlos hin und her schwankt zwischen dieser und jener Tradition: tantra – indianisches khadoshka – tibetische Geister-Beschwörung – altdeutsche Astrologie – Zigeuner-Tarot – keltische Tradition – oder was immer. Keine dieser oder anderer Traditionen hat sich in den Tiefen der westlichen Seele verankert, die ja stark materialistisch (und nicht spirituell) geprägt ist, keine von ihnen beeinflusst wirkungsvoll weite Bereiche von Imagination und Unbewußtem. Doch in Khajuraho war es anders: bei der Ausführlichkeit und Tiefe, mit der die Khajuraho-Tempel erbaut und geschmückt sind, ist offensichtlich, daß die tantrischen Lebensweisen im Volk über Generationen lebten – mit der Geburt eines jeden beginnend.

Dieser Aufsatz ist aus dem Wunsch entstanden, daß die Menschheit am Beispiel von tantra sich entschließt, schonender und liebevoller zu leben. Ich habe die Vorstellung, daß wir Menschen die Chance haben, weiter zu wachsen hin zu mehr Bewußtheit, Liebe, Klarheit. Die Biologie des Gehirns würde es zulassen. Ja es scheint, daß das einer der möglichen kulturellen Evolutions-Trends ist (andere Trends könnten zu mehr Ausbeutung, zu mehr Intellekt, zu mehr Technisierung und Organisation oder zu mehr Selbst-Zerstörung hin laufen). OSHO spricht hier von Revolution im Gegensatz zur biologischen Evolution, die beim Menschen nun abgeschlossen sei; andere sprechen von der Bewußtheits-Evolution im Gegensatz zur biologischen Evolution (zum Beispiel Marco POGACNIK und Andrew COHEN).

Das Problem der Menschheit ist doch: Gewalttätigkeit, Rücksichtslosigkeit, Lieblosigkeit, Selbstüberheblichkeit, Ausbeutung, Hektik, Zerstörungs-Lust und andere alte Eigenschaften der Menschen können uns in der kurzen Zeit von möglicherweise weniger als wenigen Jahrzehnten in eine große Menschheitskrise fallen lassen, schon lange von vielen vorausgeahnt, doch nun immer wahrscheinlicher werdend. Es könnte sogar eine Krise des Lebens auf der Erde überhaupt sein – wenn wir nur an die Verluste von Tier- und Pflanzenarten und von Ökosystemen denken, deren Entstehen viele Millionen Jahre gebraucht hatten.

Es gibt eine Reihe von deutlichen Anzeichen für diese schwarze Vision. Aber es gibt auch deutliche Anzeichen, daß die Bewußtheit der Menschen schnell wächst. Nochmal: wir Menschen könnten durchaus noch die Chance haben, hin zu mehr Bewußtheit, Liebe und Klarheit weiter zu wachsen, die Biologie des Gehirns würde es zulassen. Und tantra ist Wachsen der Bewußtheit, es wäre ein annehmbarer Weg.

Dennoch hat tantra kein missionarisches Ziel. Tantriker werden dafür nicht auf die Straße gehen, nicht einmal in die Kirchen oder in die Hörsäle, nicht mal auf Gewerkschaftsversammlungen. Aber es ist der Wunsch der Tantriker: wenn euch ein Mensch begegnet, dessen Augen friedvoller und leuchtender sind als bei den anderen: verdammt ihn nicht als Sektenführer oder -opfer, sondern nehmt ihn an und sagt ihm: „wir haben auf Leute wie dich gewartet, was hast du uns zu bringen?“







Damit Ihr meine verschiedenen Berichte/Blogs über Khajuraho finden könnt, gebe ich Euch das folgende Inhaltsverzeichnis an, das ist eine Weiser-Liste mit den jeweiligen Blog-Adressen:

(Die Zahlen dienen meiner eigenen Übersicht)




Die Gesamtübersicht über alle meine Blogs findet ihr hier:
002 - neue Gesamtliste:
http://mein-abenteuer-mein-leben75.blogspot.com/

  

    Der Blog, der erste Zugang, das Inhaltsverzeichnis:
301 - Khajuraho-Tempel  -  
Tantra, spirituelle Erotik
http://khajuraho-mein-tantra.blogspot.de/


    Den ersten Blog, die Allgemeine Einführung, findet ihr in  
302 - Khajuraho Tantra - EINS: 
http://tantra-khajuraho-eins.blogspot.com/


    Dieser Blog:
303 - Khajuraho Tantra - ZWEI (im Shiva-Kandariya Tempel) ist hier:
http://tantra-khajuraho-zwei.blogspot.com/


    Dann kommt der Blog 4 - Khajuraho Tantra - DREI a (im Shakti-Jagadamba Tempel) hier:
http://tantra-khajuraho-drei-aaa.blogspot.com


    Zwischen-Blog 
305 - Khajuraho - Begegnen der Inneren Frau - auch erlebt im Jagadamba:
http://khajuraho-innere-frau.blogspot.com/


    Die letzten Erlebnisse im  Jagadamba-Tempel
306 - Khajuraho - Tantra DREI b (weiter im Shakti-Jagadamba Tempel) hier:
http://tantra-khajuraho-drei-bee.blogspot.com/


    Der Blog 
307 - Khajuraho - Tantra VIER, die Sharduln:
http://khajuraho-shardul.blogspot.com/


    Der Blog  
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 – die mittelalterliche Kleidung, die Wickelstrümpfe,
 die eigenartige Kleidung der Leute auf den Tempelwänden:
http://wickelstruempfe.blogspot.com/


    Der Blog  
309 - Khajuraho - Tantra SECHS, Diskussion:
http://tantra-khajuraho-fuenf.blogspot.com/

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http://tantra-khajuraho-sieben-osho.blogspot.com/

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"Der Rote Kiesel" - eine Fantasiegeschichte in den Wäldern rund um Khajuraho:
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Das Land um Khajuraho - wie es heute aussieht:
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314 - Khajuraho - Garuda meine mystische Ankunft in Khajuraho ELF:
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(Garuda ist ein mystischer Vogel in Asien)

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315 - Khajuraho - Frauenwanderung von Bremen - um 1300
http://tantrische-frauenwanderung.blogspot.de/ 

(ein Versuch, in Indien die mittelalterlichen Tantra-Tempel zu verstehen)



 Fremde Khajuraho-Blogs:
von ffranz mit meinen Kommentaren:


501 - Meine Wurzeln in Indien:






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ENDE